Ungekürzter Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redakteurin Alexandra Paul (BNN). Die Rechte an diesem Text liegen bei Alexandra Paul (BNN).
Höher, schneller, weiter, billiger – so die verkehrspolitische Maxime der vergangenen Jahrzehnte, als Sprit noch günstig, der Autoverkehr am Wachsen und die öffentlichen Mittel großzügiger bemessen waren. „Wir stehen angesichts einer Verknappung der Ressourcen an einer Zeitwende“, erklärt Prof. Dr. Heiner Monheim von der Universität Trier, der am 22.07. im Rahmen einer Infoveranstaltung der K3575-Initiative im überfüllten historischen Kursaal in Langenbrücken referierte.
Als Referatsleiter für Stadtverkehr im Landesministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen konnte er durch verkehrsberuhigenden Umbau von ca. 1600 Straßen ebenso viele Ortsumgehungen verhindern und kennt seine Pappenheimer unter den Städteplanern. „Oft sitzen da Betonköpfe, denen man Feuer unter dem Hintern machen muss“ so Monheims Erfahrungen.
Seine Alternativen zur geplanten Ortsumgehung zielen in erster Linie auf einen umfassenden Ausbau des ÖPNV – insbesondere des Busverkehrs – , eine deutliche Attraktivitätserhöhung des Fahrrades und eine Verengung und Verlangsamung des innerörtlichen Verkehrs ab. „Wenn Sie den Gürtel enger schnallen, hören die auf zu fressen!“ Mit provokanten Aussagen geizt Prof. Dr. Monheim nicht an diesem Abend.
Weniger plakativ ausgedrückt: Sobald die Ortsdurchfahrtswege zugunsten der Fußgänger, Radfahrer und Baumbestände deutlich verengt werden, überlegen es sich vor allem Lkw-Fahrer, ob sie sich durch ein solches Nadelöhr quälen möchten. Auch eine drastische Verlangsamung des Verkehrs auf 20 bis 30 km/h trägt zur Beruhigung bei. Da sich Lärm logarithmisch vermehrt, ist ein Lkw bei Tempo 50 doppelt so laut wie bei Tempo 30. Rast er mit 70 Stundenkilometern durch den Ort vervielfacht sich der Wert und die Schadensbilanz entspricht der von 10 Lkws.
Monheims Eindruck vom ÖPNV nach Begehung der drei Orte Langenbrücken, Mingolsheim und Kronau: „Ich bin erschüttert, wie extrem unterentwickelt der Busverkehr bei gleichzeitig relativ gutem S-Bahnnetz ist“. Eine Verzehnfachung der Haltestellen bei deutlicher Erhöhung der Taktfrequenz und der Einsatz kleiner Busse in Zusammenarbeit mit bereits agierenden lokal organisierten Systemen erhöhe signifikant die Chance, dass das Auto in der Garage bleibe. „Der öffentliche Verkehr braucht Stadtbusqualität.“
Monheims Schätzungen zufolge belaufen sich rund 70% des Autoverkehrs in den drei Ortschaften auf Binnenverkehr, der durch Wegstrecken zwischen 1 bis 3 km gekennzeichnet ist. Betrachtet man den Quellverkehr innerhalb eines 10km-Kreises, dann reduziert sich die Zahl bereits deutlich und nur noch rund 10% machen den eigentlichen Durchgangsverkehr über 10 km aus. „Autoverkehr ist überwiegend hausgemacht“, so das Fazit des Experten.
Wo eingeschossige Discounter in energetisch verschwenderischer Bauweise auf der grünen Wiese die Bevölkerung zum Auto als Mittel der Wahl zwingen, da könne man sich nicht über den Verkehr wundern. Mit einer Verkürzung der Einkaufswege durch mehrgeschossige Bauweise wie in Großstädten teilweise bereits üblich und Bushaltestellen direkt an den Einkaufszentren gebe man dem ÖPNV eine realistische Chance. „Wer sich im öffentlichen Verkehr nicht engagiert, kann nicht gewinnen“, so die Prognose Prof. Dr. Monheims.
Lobend erwähnte er die örtliche Beschilderung für Radfahrer. Allerdings könne die nicht optimal genutzt werden, wenn es kaum radfahrbezogene Infrastruktur gibt. Sein Tipp: die Anschaffung von 100 öffentlichen Pedelecs pro Ort sowie eine großangelegte Radfahrkampagne anstatt noch jahrelang auf eine Ortsumgehung zu warten, deren Kosten seinen Erfahrungen zufolge bei veranschlagten 30 Mio € mit schätzungsweise 40 Mio € explodieren werden – wenn sie denn jemals kommt.
Ziel einer jeden Umgehung ist in erster Linie eine Beruhigung der innerörtlichen Verkehrssituation. Monheims langjährige Erfahrungen in der Praxis belegen, dass Ziel und Ergebnis in diesem Fall so gut wie nie übereinstimmen. Sind Ortsumgehungen da, werden die Orte nicht weniger durchfahren. Wie auch, wenn sich 2/3 der Fahrten innerhalb der Zentren abspielen. Als Gewinner zukunftsweisender Infrastrukturprogramme werden Kommunen hervorgehen, deren Vertreter sich selbstbewusst und mutig mit neuen Ideen auseinandersetzen.
Für die vorgelegten Umgehungspläne gäbe es für seine Studenten eine 6 minus, da sie völlig veraltet und an der Landschaft vorbei geplant seien. „Eine Straße muss sich nach den örtlichen Gegebenheiten richten“, so Monheims oberster Lehrsatz, den seine Studenten bereits im ersten Semester mitbekommen. Und gerade Kurorte hätten die Pflicht, Gesundheit, Menschen und das Potential der Natur sehr ernst zu nehmen. Viele Ideen, wenig kommunale Mittel und noch weniger Trost für all diejenigen, die von der Situation direkt betroffen sind. Doch Monheim macht klar, dass sich Diskussionen dieser Art jahrzehntelang hinziehen.
Er verordnet den Verantwortlichen ein qualifiziertes Moratorium, um die komplette Planung nochmals gründlich zu überdenken und eine Stufenfolge festzulegen. Was kann wie schnell realisiert werden? Monheims Tipp: „Holen Sie sich Experten in die Gemeinderatssitzungen und Sie haben in ca. 5 Jahren bezahlbare Lösungen.“ Sollte die Ortsumgehung dann genehmigt sein, kann man sich immer noch überlegen, ob sie überhaupt noch benötigt wird.
Da Gutachten als Trendfortschreibungen aus dem letzten Jahrtausend völlig obsolet sind, empfiehlt er finanzschwachen Gemeinden, die Rekrutierung qualifizierter Studenten, die solche Gutachten zur aktuellen Quell- und Zielverkehrssituation sowie alternative Möglichkeiten zur Verkehrsberuhigung innerhalb umfangreicher Studienarbeiten erbringen können.
Mit max. 10% der Kosten für eine Ortsumgehung können diese Vorschläge dann sukzessive landschaftsintegriert umgesetzt werden. Jede noch so kleine Aktion ist mehr, als mit endlos geführten Diskussionen bisher erreicht werden konnte. Wermutstropfen ist und bleibt allein die Tatsache, dass Kommunen die Kosten für innerörtliche Verkehrsberuhigung selbst aufbringen müssen, während aus Bundesmitteln finanzierte Milliarden für Umgehungen im Gemeindehaushalt kostenneutral bleiben.